Musiktheater
Im August 2021 feierte die pazifistische Oper »Owen Wingrave« ihre Lübecker Erstaufführung und bildete den Startschuss für einen Benjamin Britten-Zyklus am Theater Lübeck. Im März 2022 folgte die geheimnisvolle Kammeroper »The Turn of the Screw«, bevor am 10/03/23 der Zyklus durch die Premiere der Komischen Oper »Albert Herring« vervollständigt wird. Alle drei Stücke werden von dem englischen Regisseur Stephen Lawless inszeniert, für den diese Werke eine Herzensangelegenheit sind. Im Interview erzählt er von seiner Bekanntschaft mit Benjamin Britten und seinen künstlerischen Ideen.
Wie ist die Idee eines Britten-Zyklus’ entstanden?
Stephen Lawless Genauso wie viele Ideen heutzutage ist sie der Pandemie geschuldet. Ich wurde in Lübeck für ein paar Projekte angefragt, die aus verschiedenen Gründen nicht zustande kommen konnten. Dann hat mich die Leitung gefragt, was ich mir alternativ unter Corona-Bedingungen vorstellen könne. Ich habe sofort von meinem alten Traum erzählt, »Owen Wingrave«, »The Turn of the Screw« und »Albert Herring« als Zyklus zu inszenieren.
Warum beginnst du mit dem werkgeschichtlich letzten der drei Stücke?
SL Ich glaube, die Idee, mit »Owen Wingrave« anzufangen, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass das Stück wenig bekannt ist. Ich habe es nur ein paar Mal gesehen und war leider immer unzufrieden. Mein Gefühl ist, dass sich hinter der Viktorianischen Fassade des Stückes etwas Wesentliches von Britten als Mensch und Dramatiker verbirgt: sein Pazifismus. Ich wollte eine Inszenierung, die diesen Aspekt fokussier und dadurch die »bürgerliche« Dramaturgie des Originals überschreibt. Das Werk ist Brittens wohl abenteuerlichste Partitur; die Musik bezeugt seine Leidenschaft für das Thema der Kriegsdienstverweigerung.
Wie hast du Britten kennengelernt?
SL Als ich neunzehn war, war ich am London Opera Center eingeschrieben, einem College für Sänger, Produzenten und Repetitoren. Eine Sopranistin dort hieß Mary Clarkson, die gleichzeitig als Bibliothekarin für Britten und Pears gearbeitet hat. Sie erzählte mir, dass das Aldeburgh Festival für eine Woche einen Manager suche. Letztendlich verbrachte ich dort drei Monate. Das war fabelhaft, denn so lernte ich Britten und Pears persönlich kennen, ein Jahr vor Brittens Tod. Er war zwar gesundheitlich ziemlich schwach, kam aber trotzdem zu Proben, um sie – hinter einer Trennwand, für die anderen unsichtbar – zu verfolgen. Keiner sollte sehen, in welchem Zustand er sich befand. Ich war derjenige, der ihm mit seinem Rollstuhl half. Die Zeit an sich war extraordinär. Viele seiner früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lebten noch; Imogen Holst, zum Beispiel, die Tochter von Gustav Holst. Man kam in ein Büro und da lagen neue Rezitative für »Tod in Venedig« herum. Und noch eine Anekdote: Am Tag vor meiner Abreise bat mich Britten, in einer Fundraising-Lotterie ein paar Lose für ihn zu kaufen. Er gewann ein Motorrad! Ich sage immer: In meinem ersten Job habe ich für Britten und Pears gearbeitet, seither ging es nur bergab!
Gibt es in Brittens Gesamtwerk wiederkehrende Motive?
SL Ja. Das erste und wichtigste ist sicherlich die Zerstörung bzw. der Verlust der Unschuld – ein Thema, das ihn existenziell betraf. Es zieht sich von »Peter Grimes« bis zu »Tod in Venedig« wie ein roter Faden durch alle seine Opern. In den meisten dieser Stücke erscheint dieses Thema in seiner katastrophischen, tragischen Dimension; nur in »Albert Herring« verhandelt Britten es als Komödie.
Wieso stellst du das werkgeschichtlich früheste der drei Stücke an das Ende deiner Britten-Trilogie?
SL Weil ich mit einer Komödie, einem großen Lachen über die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft, enden möchte. »Owen Wingrave« und »The Turn of the Screw« sind durch bürgerliche Figuren und deren Ansichten geprägt. In »Albert Herring« dagegen beginnt etwas Neues: Mit Sid und Nancy kommt die Arbeiterklasse ins Spiel, die sich den Autoritäten des Bürgertums widersetzt… Ich habe noch einige der Darstellerinnen und Darsteller der Uraufführung kennengelernt: neben Pears als Albert Herring auch Joan Cross, die Premierenbesetzung der Lady Billows. Sie hat mich mit Gin Tonics unter den Tisch getrunken! Joan lebte halböffentlich mit verschiedenen Frauen zusammen. Mich faszinierte die Tatsache, dass Lady Billows, die sich die Position der Moralrichterin ihrer Gemeinde anmaßt, ausgerechnet von dieser großartigen Frau dargestellt wurde. Was für eine wundervoll ironische Wahl bei der Besetzung! Ich liebe englischen Humor dieser Art, mit dem man die bürgerliche Doppelmoral dem Gelächter preisgeben kann.